TonyT hat geschrieben: ↑Mo 8. Aug 2022, 06:37
Und was ist mit den Jungs?
Leider habe ich als Frau im Laufe meines Lebens sehr viel sexualisierte Gewalt erleben müssen. Egal ob Sprüche, starren, grabschen, übergriffiges flirten und als Schlampe oder Hure beschimpft werden beim Verteilen eines klaren "neins!", ich denke so ziemlich jede weiblich gelesene Person weiß wovon ich rede. Wenn man nun unsere liebevoll aufgebauten Schutzräume verlässt, merkt man schnell, dass in normalen Clubs, Bars und auch allen möglichen anderen Orten eine gewisse Freizügigkeit von Männern leider auch sehr oft mit Raum einnehmen, laut sein, Geprolle und Rücksichtlosigkeit einhergeht. Also lernt man sich zurück zu ziehen. Denn wenn man diesen Personen/Gruppen zu nah kommt, muss man mit Sprüchen, Übergriffen, angerempelt werden leider rechnen. Leider nehmen sich diese Personen/Gruppen aber auch immer wieder ihren Raum, wo sie ihn auch gerade wollen. Da wird beim Weg von dem Floor zur Bar ohne Rücksicht von Verlusten eine gerade Linie gelaufen und alle die im Weg stehen haben Platz zu machen oder werden aus dem Weg gestoßen. Ob man seinen Schweiß an Menschen abwischt und verteilt, die das definitiv nicht wollen ist egal. Da wird auch mal der Arm wahllos um die Schulter einen fremden Person gelegt. "Ist doch nur Spaß!"
Das war jetzt eine starke Pauschalisierung meinerseits, aber ich denke die bildliche Beschreibung kommt vielen hier bekannt vor und viele haben ähnliche Situationen schon erlebt, auch wenn sich natürlich nicht jeder oberkörperfreie Mensch sich so verhält und ich auch problemlos neben friedlichen oberkörperfreien Menschen denen einfach warm ist tanzen kann.
Aber ich denke viele wissen welche Art von Gruppen ich meine. Dieses unangenehme Gefühl von Gefahr in deren Nähe empfinden meines Erachtens auch nicht nur Frauen bei solchen "Typen". Hier wurde viel von marginalisierten Männergruppen gesprochen. Auch diese hatten sicherlich schon unangenehme Begegnungen mit den im Beispiel beschriebenen Männergruppen.
Und damit bin ich auch bei meinem Punkt. Für mich bedeutet "no shirt - no service" nicht, gezielt Männer zu unterdrücken. Ich sehe es eher als den Versuch an, zum einen auf ein Problem aufmerksam zu machen, zum anderen aber auch, Trigger zu reduzieren. Wir wissen nicht, was die Menschen um uns herum für Erfahrungen in ihrem Leben machen mussten. Wir wissen nicht, was diese Form der Nacktheit bei den Menschen um uns herum auslöst. Und ja, ein Mann der sich einen BH anzieht, ein Netzshirt anzieht oder sich auf andere Art "bedeckt" löst bei mir einfach nicht diese Beklemmtheit aus. Ist vielleicht oberflächlich, aber jemand der sich selbst aktiv "der Männlichkeit beraubt" wie ich es hier irgendwo glaube ich gelesen hatte gibt mir das Gefühl der Sicherheit zurück. Ob mich auch ein Typ im BH angrabschen könnte? Klar, habe ich aber einfach noch nie erlebt.
Und damit sind wir an dem Punkt der wirklich unfair ist. Aufgrund des Verhaltens einiger weniger müssen alle unschuldigen Cis-Männer nun auch ihr Shirt anziehen. Das ist traurig und ich würde mich freuen, wenn wir in der Gesellschaft irgendwann so weit sind, dass man nicht mehr automatisch einen großen Bogen läuft, weil einem da gerade 3 oberkörperfreie Typen entgegen kommen und man reflexartig auf Abstand geht. Aber leider sind wir noch lange nicht so weit. Und ich denke auch nicht, dass es nur um Frauen geht die sich da unwohl fühlen.
Aber ist es dann nicht unfair, wenn Frauen weiter nackig rum rennen dürfen und die Männer triggern?
Finde ich nicht. Denn die nackten Männer triggern, weil es leider einfach so viele Idioten gibt die sich scheiße verhalten. Die nackten Frauen triggern, weil diese Idioten sie zu Objekten machen und ihnen damit ihr Recht auf diese Freiheit absprechen. Ich sehe da eine klare Verteilung der Machtverhältnisse in dieser Gesellschaft.
Von daher, bitte liebe Männer. Vielleicht ist es euch möglich euch diese paar Tage mal zurück zu nehmen und den anderen den Freiraum trotzdem zu lassen, die ihn sonst nicht haben. Und wenn ich dich einfach nur hetero und männlich lese, du es aber gar nicht bist, dann tut es mir Leid. Das Unwohl Sein wird aber leider davon ausgelöst, wie ich dich lese. Vielleicht findest du ja eine kreative Art, mir das Gefühl von Sicherheit zurück zu geben. Ein bauchfreies Top, ein BH oder irgend etwas, dass mir zeigt, dass du nicht zu diesen Idioten gehörst. Ist krass oberflächlich, dessen bin ich mir bewusst, aber man kann sein eigenes Unwohlsein leider nicht mal eben für ein paar Tage abstellen.
Und an all diese Idioten: IHR seid der Grund dafür, dass Menschen bei 35° ihr Shirt anziehen müssen und so lange ihr nicht akzeptiert, dass IHR die Schuld daran tragt werdet ihr auch weiterhin all die lieben, aufmerksamen und respektvollen männlich gelesenen Personen in Mitleidenschaft ziehen. Denn auch sie müssen wieder mal wegen eurem Verhalten leiden. Glückwunsch! Aber bitte, berichtet doch weiter davon, wie schlimm diese ganze Diskriminierung für euch ist. Wie sehr ihr leidet, weil Menschen sich aufgrund eures Verhaltens dazu gezwungen sehen, einen Schutzraum zu schaffen. Wie böse diese "Linken" sind, weil euer Verhalten sie nachhaltig negativ geprägt hat und dafür gesorgt hat, dass sie sich in eurer Nähe unsicher fühlen. Und präsentiert dabei doch bitte noch einmal, wie doof all diese Frauen sind, die einfach keine Lust mehr haben sachlich zu argumentieren, wenn da jemand von euch steht und behauptet diskriminiert zu werden. Wir werden von Leuten wie euch jeden Tag unterdrückt. Vielleicht, nur vielleicht ist es euch möglich, eure toxische Männlichkeit auch nur für ein paar Tage im Jahr doch mal runter zu schlucken und Rücksichtvoll zu sein. Und vielleicht mal nicht darauf zu bestehen, dass ihr mal wieder den Freiraum auf Kosten des Freiraumes vieler andere bekommt. Das wäre doch schön und vielleicht sogar ein Anfang. Und vielleicht, nur vielleicht, versucht ihr dann auch außerhalb der Fusion einfach mal darauf zu achten, wie sich Menschen in eurer Umgebung fühlen. Oder vielleicht auch in der Nähe eurer Freunde. Und dann sagt ihr denen das vielleicht. Und vielleicht, nur vielleicht könnt ihr dann dabei helfen, dass wir diese "no shirt - no service" Schilder irgendwann nicht mehr brauchen.
Auch von mir!
Ein, zwei Gedanken dazu: Ich finde auch, dass du vollkommen recht hast, dass es um Gewöhnung geht. Auf vielen kleineren Festivals läuft gefühlt mindestens die Hälfte der Leute ständig unbekleidet herum, und niemanden juckt's. Das wäre natürlich der Idealzustand für jedes Festival, aber mir ist natürlich klar, dass mit steigender Größe auch die Anzahl der Honks, die die Trennung von Nacktheit und Sexualität nicht auf die Kette bekommen und dies durch unangemessenes Verhalten zum Ausdruck bringen, größer wird, und somit die Wahrscheinlichkeit bei jeder einzelnen weiblich gelesenen Person, von einem dieser Deppen auf irgendeine Art und Weise blöd angegangen zu werden, größer ist, je größer das Festival.
Und: Diese Art der Gewöhnung impliziert nun mal leider auch, dass weiblich gelesene Personen "in die Bresche springen" müssten, sich der oft erst erst einmal unangenehmen Situation auszusetzen, selbstbewusst unbekleidet aufzutreten. Das möchte ich von niemandem erwarten, auch wenn es vielleicht der "effektivste" Weg wäre.
Auf der anderen Seite: Es wäre ja schon viel geholfen, wenn an Verhalten gearbeitet würde, und da sehe ich, dass wir Männer* durchaus noch einiges an Luft nach oben haben. Ich finde die Situation mit dem Clubmitarbeiter, die du beschrieben hast, da sehr eingängig: Es mag ja sein, dass Sozialisierung (oder auch auf irgendeine Art tatsächlich sowas wie Veranlagung/"Urinstinkte"/whatever) dazu führt, dass das eigene Gehirn auf gewisse "Schlüsselreize" anspringt und dies auch mit sexueller Konnotation. Vielleicht sind manche Menschen auch so verdrahtet, dass es für sie unmöglich ist, das zu trennen, selbst durch Gewöhnung/Desensibilisierung/wie auch immer man das nennen will.
In JEDEM Fall ist aber in erster Instanz ja ausschlaggebend, wie ich damit umgehe, wie ich mich VERHALTE, und das kann ich in jedem Fall beeinflussen. Ganz stumpf gesagt: Selbst WENN es mir beim Anblick von irgendwem in den Lenden kribbelt, dann halte ich trotzdem an mich, verdammte Axt. Einfach..gar nicht darauf reagieren. Nichts oder irgendwas anderes tun. Scheiß drauf. Ist doch viel zu anstrengend, jedem einzelnen Reiz, der mir begegnet, irgendeine Reaktion zu widmen.
Wir alle können bis zu einem gewissen Grad Impulskontrolle erlernen, und das halte ich bei uns Typen für das Mindeste, was wir machen können, um diesem Thema zu begegnen. Ob NoShirtNoService dazu beiträgt, kann ich nicht so recht beurteilen, aber wir alle können es in unserem Bekanntenkreis thematisieren, wenn wir mitbekommen, dass da irgendwelche Menners was davon faseln, dass sie ja gar nicht anders könnten oder wasweißich.
Und ich bin mir sicher, dass es auch okay ist, wenn das nicht immer auf Anhieb funktioniert. Bei so viel übergriffiger Scheiße, wie wahrscheinlich alle FLINTA*s schon erlebt haben, bin ich mir ziemlich sicher - bitte korrigiert mich, wenn ich falsch liege -, dass der Unterschied zwischen "Bemerken und gaffen" und "Blick schweift drüber, will darauf hängen bleiben, aber man(n) korrigiert sich und drückt eh auf irgendeine Art und Weise nonverbal aus, dass man sich dabei ertappt hat und es einem unangenehm ist und man so eigentlich nicht sein will" sehr wohl zur Kenntnis genommen wird. Wenn es allen Menners unangenehm würde, so zu sein, wäre schon viel erreicht, möchte ich meinen.
Ich springe ein wenig, hier noch ein Gedanke zum Thema T-Shirt an und für sich: Ich persönlich bin überhaupt nicht für sommerliche Temperaturen gemacht. Alles ab 25°C empfinde ich als zunehmend unangenehm. Dazu bin ich mit einem äußerst transpirativen Körper umgeben. Bei den derzeitigen Temperaturen öle ich nach fünf Minuten Spazieren aus jeder Pore. Nach zwei Stunden Tanzen ist unter mir am Boden eine Pfütze, auch nachts bei milderen Temperaturen. Mir ist eh scheiße warm. Ich leide wirklich körperlich (und mithin beizeiten auch mental) unter höheren Temperaturen. Und wenn sich auch nur eine einzige Person weniger unwohl fühlt, wenn ich ein T-Shirt trage, dann ist für mich selbstverständlich, dass ich eins trage. Damit brech ich mir nun wirklich keinen Zacken aus der Krone. Ja, man kann das so sehen, dass es eine Einschränkung meiner Freiheit ist, aber ganz ehrlich: In der Juristerei würde man von "Rechtsgüterabwägung" sprechen - und ich finde, diese Abwägung fällt unter den Gegebenen Bedingungen für die "Einschränkung meiner Freiheit" aus. Ich will niemandem vorschreiben, wie er sich zu fühlen hat; "stell dich nicht so an" ist kacke; und Befindlichkeiten gegeneinander aufzuwiegen ist Unfug. Und dennoch gibt es da einen Teil in mir, der sagt: Es ist möglich, T-Shirt-Tragen selbst bei meiner wirklich unangenehmen Prädisposition hinsichtlich Temperaturen als allerhöchstens milde Unannehmlichkeit zu betrachten und selbst, wenn man dem entgegen steht, es mit der geballten Faust in der Tasche einfach trotzdem zu machen. Diskurs: Ja! Bitte! Aber dieses Thema ist Symptom. Müssen wir uns wirklich so dermaßen damit aufhalten, anstatt Ideen zusammenzutragen, wie wir Cistypen dafür sorgen können, dass FLINTA* sich safe genug fühlen?
Ja, ich bin sehr dafür, dass Nacktheit an "öffentlichen" Orten wie eben Festivals und dergleichen grundsätzlich entsexualisiert werden/sein sollte, denn es ist natürlich ein angenehmes Gefühl, den Wind auf der Haut zu spüren und sich frei bewegen zu können. Und es gibt natürlich auch schon Orte, wo das so ist, aber das eben zumeist mit eher überschaubarer Personenzahl. Da wird sicherlich auch mit reinspielen, dass es bei kleineren Menschengruppen schlicht einfacher ist, unsexuelle Nacktheit zur Konvention zu machen und diese in der sozialen Dynamik auch durchzusetzen. In jeder Saunalandschaft, an jedem FKK-Strand mit ein paar zig Menschen fällt der eine Gafferdude viel schneller auf und kann entsprechend in seine Schranken verwiesen werden. Leider hab ich nicht so recht eine Idee, wie sich das hochskalieren ließe. Ich kann auch schlecht einschätzen, wie groß der Anteil Menschen, die unangenehm/übergriffig auf weiblich gelesene Nacktheit reagieren, auf der Fusion ist - bestimmt ein gutes Stück geringer als in der Außenwelt, aber sicher nicht null. Gibt es hier im Forum weiblich gelesene Personen, die da ggf. mal aus ihren Erfahrungen berichten können?
NoShirtNoService ist sicherlich nicht die Lösung für diese Problematik, aber da wir nun mal leider noch nicht so weit sind, dass alle, die wollen, unbeschwert unbekleidet sein können, finde ich es absolut okay, aus Solidaritätsgründen bis auf weiteres mein T-Shirt anzubehalten.
PS: Eine provokative Frage kann ich mir nicht verkneifen: Wenn es doch so wichtig ist, oberköperfrei rumzulaufen, wieso eigentlich da aufhören? Wieso ist die Forderung eigentlich nicht, nackt rumzulaufen? Ach, auf einmal doch schambehaftet? Na sowas! Und jetzt ein wenig Transferleistung...